Friedrich

Ein Autist erzählt.

Studium, das

Für ein Kunststudium zog ich von Berlin nach Leipzig. Bis zum Umzug war ich davon überzeugt, der größte Künstler zu sein. Das konnte ich, weil niemand sonst meine Kunst sah.

Im Kunststudium wurde diese Einschätzung nicht bestätigt. Meine Kunst war eine von vielen. Sie war nach Urteil der Professoren Durchschnitt. Ich war überfordert von der neuen Stadt, der neuen Friseurin und von 600 Kunststudenten. Meine einzig verbliebene Konstante, der größte Künstler zu sein, zerstört.

Mein Lieblingsort in der Kunsthochschule war eine bestimmte Toilette. Die Toilette lag abseits der stark frequentierten Flure. Wenn mich die Menschen überforderten, zog ich mich auf diese Toilette zurück. Das passierte regelmäßig zwischen zwei Seminaren.

Die Hölle war der Klassenraum und das Café. Das waren Orte mit Menschen, die reden wollten. Von diesen Menschen gab es an der Kunsthochschule über 600. Ich musste 600 Gesichter nach „kenne ich“ und „kenne ich nicht“ sortieren. Die Gesichter, die ich kannte, grüßte ich. Ich habe die meisten Gesichter nicht gegrüßt. Ich kann mir Gesichter nicht gut merken. Genauso wie Vornamen. Am Ende des Kunststudiums konnte ich aus meiner Klasse fünf Gesichter mit fünf Vornamen verbinden.

Die feierliche Diplomverleihung habe ich nicht miterlebt. An diesem Tag war der ehemalige größte Künstler krank. Das Zeugnis wurde postalisch zugestellt.