Friedrich

Ein Autist erzählt.

Guten Morgen, das

Meinen Zivildienst leiste ich in einem Krankenhaus. Meine Arbeit im Krankenhaus verrichtete ich gewissenhaft. Ich war 21 Jahre jung. Mit 21 Jahren war mir Ehrlichkeit wichtig. Von 9 Monaten Zivildienst habe ich 5 Monate abgeleistet. Weil ich Lügen nicht in Ordnung fand.

Die Lüge bestand darin, dass ich Patienten bei der Morgenroutine einen Guten Morgen wünschen sollte. Ich konnte das nicht. Denn es gab über 100 Patienten. Ich verstand nicht, wie ich jedem Patienten einen Guten Morgen wünschen kann. Und das im Minutentakt.

Ab einer bestimmten Anzahl von Begegnungen wird aus einem ehrlich gemeinten Ausspruch eine Floskel. Die Zahl ehrlich gemeinter Aussprüche hatte ich damals für mich bei 1 verortet. Genau einem Patienten konnte ich genau einen ehrlich gemeinten Guten Morgen wünschen.

Das sahen die Krankenschwestern anders. Die Morgenroutine war eine laute Routine. Wenn ich über den Flur ging, hörte ich aus den Patientenzimmern lauter unehrliche Wünsche. Die Wünsche überlagerten sich, weil viele Krankenschwestern gleichzeitig grüßten. Es war laut, durcheinander und eine Lüge.

Eine Patientin mochte ich. Die Patientin mochte mich aber nicht. Denn auch ihr verweigerte ich das Gute Morgen. Das schrieb sie auf einen Zettel. Dieser Zettel landete bei der Krankenhausleitung. Da mir mit 21 Jahren Ehrlichkeit wichtig war, verließ ich 4 Monate früher als geplant das Krankenhaus.

Damals hat mir keine Krankenschwester erklärt, dass Patienten vor und nach einem operativen Eingriff nervös sind. Dann hätte ich verstanden, dass Guten Morgen eine andere Funktion erfüllt als ich ihr zuschrieb. Das Gute Morgen wäre eine Art Routine. Routinen beruhigen. Dann sind Patienten nicht mehr nervös. Damals hat mir das keine Krankenschwester erklärt.