Friedrich

Ein Autist erzählt.

Uhrzeit, die

Als meine Mitschüler in der Grundschule die Uhrzeit lernten, war ich krank. Als ich wieder gesund war, weigerte ich mich, die Uhrzeit zu lernen. Denn ich war krank, als die Uhrzeit im Unterricht durchgenommen wurde. Also musste ich meiner Überzeugung nach die Uhrzeit nicht lernen.

30 Jahre später wurde ich Kunstlehrer. Und merkte, dass ich die Uhrzeit noch immer nicht kann. „Halb Acht“ könnte 19:30 Uhr bedeuten. Oder 7:30 Uhr. Oder 20:30 Uhr. Oder 8:30. Analoge Uhren habe ich inzwischen lesen gelernt. Nur die Wanduhr im Unterrichtsraum, die verwirrte mich als Lehrer. Ich konnte die angezeigte Uhrzeit nicht mit der realen Unterrichtszeit verknüpfen. Also ignorierte ich sie. Was gut war. Die Wanduhr zeigte wochenlang die Uhrzeit nicht korrekt an. Die Batterie war leer.

Mein Ersatz für die Uhrzeit war eine Textdatei und eine Stoppuhr. In der Textdatei war der Ablauf der Unterrichtsstunde notiert. Schrillte zu Stundenbeginn die Schulglocke, drückte ich die Starttaste der Stoppuhr. Zu jeder Unterrichtsphase gab es in der Textdatei eine Zahl. Die Zahl gab an, in welcher Minute nach Start der Stoppuhr eine neue Unterrichtsphase beginnt. Meine Augen wanderten ständig von Textdatei zur Stoppuhr. Und von Stoppuhr zur Textdatei.

Manchmal lenkte mich zu Unterrichtsbeginn ein Schüler ab. Dann drückte ich verspätet auf die Starttaste der Stoppuhr. Ich musste 45 Minuten lang die Zahl von der Stoppuhr im Kopf um die verpassten Minuten erhöhen. Damit die Zahl von der Stoppuhr mit der Zahl in der Textdatei übereinstimmt. Diese Unterrichtsstunden stressten mich. Und: Ich wusste die Minuten. Aber nicht die Sekunden. Die Schulglocke schrillte nicht 45 Minuten und 0 Sekunden nach Start der Stoppuhr. Die Schulglocke schrillte 34 Sekunden zu spät. Oder noch schlimmer, die Schulglocke schrillte 34 Sekunden zu früh.

In meiner eigenen Schulzeit überzogen Lehrer häufig den Unterricht. Das mochte ich nicht. Und meine Mitschüler auch nicht. Mir ist das als Kunstlehrer fast nie passiert. Dank Textdatei und Stoppuhr. Außer die Schüler waren unartig. Dann ließ ich die Stoppuhr bis zur Minute 47 laufen. Minute 47 bedeutete 2 Minuten weniger Pause für die Schüler. Noch schlimmer: Minute 47 bedeutete 2 Minuten weniger Pause für mich.